S. 21—22

Welche Dinge find es, die der Nachwelt eine entschiedene Volksthümlichkeit, eine charaktervolle Zeit verkünden? Wo das deutlich geschriebene Wort der Geschichte fehlt, thun es Ueberreste der Baukunst und der Dichtkunst, die auf uns gekommen, und Dinge verschiedener Art, die in den Schooß der Erde versenkt wurden oder durch Zufall dahin geriethen, und die der Zufall wieder oder die Neugier an's Licht bringt. Welches Alterthum hatten die Esten? Hat denn das estnische Volk kein Denkmal, das uns Kunde über seine Vergangenheit giebt? Die vandalisirenden Eroberer zerstörten das Alte spurlos, und vergebens frägt man ihre spärlichen schriftlichen Urkunden, wie es hier war, ehe es wurde, wie es ist. Ueberreste der Baukunst find nicht auf uns gekommen, denn Städte und Bauwerke mußten wohl zuerst und vorzugsweise dem Zerstörungseifer als Opfer fallen, oder den Zwingburgen der Eroberer zum Material dienen. Geschriebene Dichterwerke der Vorzeit hat das Estenvolk nicht vorzuweisen, und die im Schooß der heimatlichen Erde in Menge ruhenden Alterthümer schreibt Geschichtskritik und Chemie Fremdlingen zu, die gelegentlich unsere Küsten und Straßen besuchten.

Aber abgesehen davon, daß Nothwendigkeit und dringendes Bedürfnis die Bauwerke des Nordens baute, — abgesehen davon, daß Dichterwerke in Liedern und Sagen sich durch ein Jahrtausend im Munde des Volkes erhalten haben, — abgesehen davon, daß das Estenvolk beim Wiedererwachen zum freieren Bewußtsein die im Schooße der heimatlichen Erde ruhenden Alterthümer seinen Vorältern vindiciren wird, — abgesehen von alle dem müssen wir die Sprache als ein Hauptdenkmal ansehen, das von der unverächtlichen Vergangenheit des Volkes zeugt. Es steht diese leider dahinsterbende Sprache als Ruine eines großen Kustwerkes da. Eine Sprache nenne ich ein Kunstwerk — sie ist es eben so, wie ein jedes andere. Beim Abschied von Babel bekam ein jedes Volk sein Theil mit, und wollen wir dieses Theil für den rohen Stoff gelten lassen, so schuf nun ein jedes Volk aus diesem Stoff sein Kunstwerk, schöner und minder schön, und dieses Kunstwerk, wie jedes andere, zeugt von der Würdigkeit der Künstler. Und so müssen wir auch, wenn wir in die regelrechteste aller Sprachen, in die estnische tiefer eingehen, uns zurufen: Das Volk, das diese Sprache schuf, hat keine unbedeutende Vorzeit verlebt, auch wenn seine Thaten nicht in die Maculaturregister der Wissenschaft, die sich Weltgeschichte und Weltgericht nennt, einregistrirt sein sollten.